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Empfehlung
Es gibt Bücher, die hallen lange in einem nach. Manchmal erzeugen sie einfach eine Schwingung, die man noch Tage, manchmal Wochen spüren kann, obwohl man das Buch schon längst weggelegt hat. Oft nimmt man es dann nochmal in die Hand ... und das Flirren, die besondere Wahrnehmung, die man während dem Lesen in sich gespürt hat, die ein bestimmter Ton in der Sprache des Autors oder der Autorin in einem ausgelöst hat, ist sofort wieder da.
Und es gibt Bücher, die treffen einen mit einer solchen Wucht, das man schon beim Lesen spürt dass gerade etwas Besonderes passiert. Als würde die Autorin, der Autor gerade einen direkten Dialog mit einem führen, als wäre das alles extra für einen selbst geschrieben.
Mag es an der Thematik liegen, an der Sprache, an der Form des Geschriebenen, oder an einem speziellen Zeitpunkt, dass bestimmte Worte und Gedanken in eine gerade sperrangelweit geöffnete innere Türe hineinwehen, so intensiv, dass man sie auch nicht mehr los wird. Dass sie sich mit anderen Dingen, die man gerade erlebt, die man gedacht oder gemacht hat, verweben und man das Gefühl hat, man sieht plötzlich alles eine Nuance anders als zuvor.
So geschehen bei diesem Buch "Charlotte" von David Foenkinos, das mir eine Freundin empfohlen hat. Sie hatte mich gewarnt, die Form sei sehr ungewöhnlich und zunächst iriitierend. Der Autor schreibt nur in einzeiligen Hauptsätzen. Kaum Nebensätze, kaum Kommas, jeder Satz hat eine eigene Zeile. Man fühlt sich an einen Gedichtband erinnert.
Aber nach der ersten Seite ist das Wundern schon vorbei und alles erklärt sich von selbst. Durch die wundersame Kraft dieser schnörkellosen Sätze ist man wie gebannt und bleibt es auch wenn der Autor die Handlung kurz verlässt und darüber schreibt, warum er so schreibt und welche Geschichte diese Geschichte hat.
Es ist die ergreifende Geschichte des kurzen Lebens der Malerin Charlotte Salomon, die 1943 in Ausschwitz ermordet wurde. Es ist die Geschichte einer sich aufbäumenden Künstlerseele in einer zutiefst menschenverachtenden Welt und einer völlig aus den Fugen geratenen Zeit.
80 Jahre später werden wir daran erinnert, wie schnell und wie umfassend eine Gesellschaft ihren Zusammenhalt, ihre Werte, ihr Miteinander verlieren kann und wie absurd bösartig, gleichgültig und kalt Menschen werden können, sich gegenseitig das Schlimmste antun können, weil sie blind einer Ideologie folgen, einer fanatischen Idee von Größe und Überlegenheit, in der sich wiederzufinden einem wohl das Gefühl von Stärke und Bedeutung gibt.
Verfolgt und bedrängt flieht Charlotte Salomon im französichen Exil in einen wahren Schaffensrausch, malt innerhalb von knapp zwei Jahren über 400 Bilder und erschafft mit "Leben? Oder Theater?" eine eigene Form für ihr Lebenswerk, das sie dann vollständig gesammelt und verpackt in einen Koffer einem Freund übergibt, als wüsste sie, dass es sonst nicht bewahrt werden kann.
" Erkenntnis ist, wenn man begreift, was man im Grunde schon weiß.
Alle Künstler haben so ein Erlebnis.
Nachdem sie lange im Dunkeln getappt sind.
Gelangen sie an einen Punkt, an dem sie merken: Jetzt ist es soweit."
"Sie musste eine Zeit von der menschlichen Oberfläche verschwinden.
Und dafür alle Opfer bringen.
Um sich aus der Tiefe ihre Welt neu zu erschaffen."
Ich habe dieses Buch zu einer Zeit in die Hand bekommen, als ich vermehrt danach suche, wo der Platz ist für Kunst, für Musik, dieser Zeit des reflexhaften Sich-Empörens, der Schuldzuweisung, der moralischen Einordnung in Kathegorien, die keine Zwischentöne mehr erlauben.
Diese Zeit verlangt viel von uns. Und dieses Buch hat mich daran erinnert, dass das Wahrhaftige, das Ehrliche, das Menschliche, das Demütige und das Empathische auch eine Idee ist.
Mit der sich dieser Zeit vielleicht auch, vielleicht sogar besser begegnen läßt.
Euer Martin
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